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An eine Freundin
#1
I.

Gar häufig täuscht im Leben uns der Schein –
Die klügste Vorsicht schützt vor Trug nicht immer,
Und Mißtraun macht das Schlimme oft nur schlimmer,
Wo kein Vertraun, kann keine Liebe sein.

Doch giebt es Menschen noch so ächt und rein
Wie Diamantenglanz, ihr Blick täuscht nimmer;
Wer solche kennt, den lockt kein falscher Schimmer,
Wie uns kein Irrlicht lockt im Sonnenschein.

So fand ich dich, und als ich dich gefunden,
War ich dir schnell in Freundschaft so verbunden
Als wär’s ein Bund aus frühster Kinderzeit.

Und nun ich auf ein Kurzes dich muß meiden,
Ist mir das Herz so bang und schwer beim Scheiden
Als wär’s ein Scheiden für die Ewigkeit.
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#2
II.

Der Himmel schmückte dich mit reichen Gaben!
Was schon vereinzelt anmuthvoll erscheint,
Verschwenderisch ward es in dir vereint,
Das Herz zu fesseln und den Blick zu laben.

Doch nichts Vollkommnes soll die Erde haben –
Das Schicksal hat es ernst mit dir gemeint,
Ich weiß, dein schönes Aug’ hat oft geweint,
In deiner Brust liegt manches Weh begraben.

Du aber trugst mit immer gleicher Würde
Des Glückes Gaben, wie des Unglücks Bürde,
Ob seine Schläge noch so schwer dich trafen.

Es konnten dich die launenhaften, närr’schen
Tyrannen Glück und Unglück nie beherrschen:
Du bliebest Herrin und sie blieben Sklaven!
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#3
III.

Ein Mensch, der stolz und frei durch’s Leben geht,
Gleich groß in trüben wie in heitern Tagen,
Gelassen Glück wie Unglück weiß zu tragen
Erscheint ein Wesen, das man nicht versteht.

Die Menge haßt, was frei von ihr besteht,
Nur wer ihr schmeichelt, darf sie überragen,
Doch wer zu stolz zum Schmeicheln und zum Klagen,
Der wird gehaßt, verfolgt wie ein Prophet.

Des Weisen Ruhe weckt der Thoren Wuth,
Denn Alles, was den Menschen ungewöhnlich,
Beherrscht sie – oder reizt sie unversöhnlich.

Und Wenige nur sind wahrhaft groß und gut –
Der Menschen Mehrzahl bleibt stets in der Kindheit,
Leichtgläubig, kleinlich, offnen Aug’s voll Blindheit.
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